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Jahrelange, erfolgreiche Zusammenarbeit

In der Ostfriesen-Zeitung ist die Tage ein Artikel über das geplante Frei.Wild-Konzert in Aurich erschienen, der sich im Schwerpunkt mit der Facebook-Seite Kein Frei.Wild in Aurich auseinandersetzt und der Artikel Weder frei, noch wild: Deutschrock aus Norditalien von Heribert Schiedel wird zitiert. Der Artikel von Schiedel analysiert recht nett die Aussagen verschiedener Lieder und den Inhalt von Distanzierungen der Band.

Interessant am Artikel der OZ ist aber die Stellungnahme von Marema. Im Artikel heißt es:

Der Veranstalter Marema kann die Kritik an dem geplanten Konzert ebenso wenig nachvollziehen […]. „Wir arbeiten seit Jahren erfolgreich mit dem dem management von Frei.Wild in Kombination mit der ICS Festival Service GmbH zusammen“, teilte eine Sprecherin […] mit. Bereits vor drei Jahren habe man ein sehr erfolgreiches Konzert mit Frei.Wild in Bremen veranstaltet, bei dem es weder im Vorfeld noch im Nachhinein Probleme oder Diskussionen gegeben habe. Die Band toure seit Jahr und Tag erfolgreich durch die gesamte Republik […]. Dass es in Aurich Widerstand gebe, könne man nicht nachvollziehen, so Marema.

Diese Art von Argumentation klingt ja auf den ersten Blick ganz nett, allerdings beinhaltet sie keine Aussage darüber, ob sich Marema (oder ICS) mit den aktuellen Vorwürfen und Diskussionen auseinandergesetzt hat. Wenn man bedenkt, dass die breitere öffentliche Auseinandersetzung mit Frei.Wild noch gar nicht so alt ist, ist es kein Wunder, dass es „früher“ keine Probleme gab. Entweder geht Marema hier auf Nummer sicher, weil eine interne Auseinandersetzung mit den Bands, die man so anbietet, noch nicht stattgefunden hat, oder es ist Marema schlicht und ergreifend egal.

Eine etwas kritischere Auseinandersetzung hat hingegen wohl bei Visions stattgefunden. das Musikmagazin zieht sich aus der Präsentation des With Full Force-Festivals zurück. In der Begründung heißt es u.a.:

Schon 2010 trat die Südtiroler Band in Roitzschjora auf, damals noch als relativ unbekannte Deutschrock-Band – zumindest für uns, denn wir als Festivalpräsentatoren nahmen die Band zum damaligen Zeitpunkt schlichtweg nicht wahr. Dabei waren Textpassagen wie „Kurz gesagt, ich dulde keine Kritik/ An diesem heiligen Land, das unsre Heimat ist/ Drum holt tief Luft und schreit es hinaus/ Heimatland, wir geben dich niemals auf“ (aus „Südtirol“) kaum als harmlose Heimatliebe misszuverstehen. Was die Band selbst mit ihrer Südtiroler Herkunft erklärt, erinnert zugleich immer wieder stark an Gedanken und Werte des klassischen Rechtspopulismus.

Visions gesteht genau das ein, was ich Marema an dieser Stelle unterstelle: „Früher“ hat schlicht keine Auseinandersetzung mit den Inhalten der Band stattgefunden. Weiter heißt es:

Dass nicht jeder Frei.Wild-Fan gleich rechts von der Mitte ist, versteht sich von selbst – wie es sich mit Burger verhält, kann jedoch nach wie vor in Frage gestellt werden. […] Die Band selbst behauptet immer wieder, unpolitisch zu sein. In ihren Texten weisen Frei.Wild jeden Vorwurf in diese Richtung von sich […]. Aufkeimende Kritik – die Veranstalter des With Full Force nennen es „Hexenjagd“, an der man sich nicht beteiligen wolle – wird sogar mit einer Anspielung auf die Verfolgung der Juden durch die Nationalsozialisten verglichen: „Nichts als Richter/ Nichts als Henker/ Keine Gnade und im Zweifel nicht für dich/ Heut gibt es den Stempel, keinen Stern mehr“ (aus „Wir reiten in den Untergang“). Und in einem Song wie „Wahre Werte“ werden Parolen verkündet, wie man sie von Rechten kennt: „Wann hört ihr auf, eure Heimat zu hassen/ Wenn ihr euch ihrer schämt, dann könnt ihr sie doch verlassen“. Wir sind weder der Meinung, dass diese Textpassagen unpolitisch sind, noch glauben wir, dass „Gegen Rechts!“-Aktionismus diese Aussagen wettmacht.

Das deckt sich mit meiner Meinung: Ein „gegen Rechts!“-Aktionismus bedeutet keine Absolution der Texte. Die Texte stehen, egal wie Burgers eigene Einstellung nun auch immer sein mag, für sich und sprechen eine teilweise sehr deutliche Sprache. Die Schlussformel des Statements kann man auch auf Marema anwenden:

Als Festivalveranstalter mit Toleranz zu kokettieren und „Hexenjagden“ abzulehnen, wenn es um abgrenzenden Nationalismus geht, geht uns gegen den Strich. Deshalb findet das With Full Force 2013 ohne VISIONS statt.

Zwar hat Marema keine Aussage gegenüber der Berichterstattung getätigt, aber es ist kaum vorstellbar, dass die immer vehementer vorgebrachten Vorwürfe spurlos am Veranstalter vorbeigegangen sind. An anderen Sponsoren, die in Kontakt mit Frei.Wild geraten sind, ist die Diskussion schließlich auch nicht vorbeigegangen. Laut den Ruhrbaronen wurde folgende Meldung von Jägermeister bestätigt:

Die Mast-Jägermeister SE hat in ihrem Leitbild Werte wie Weltoffenheit, Toleranz und Respekt fest verankert. Zu diesen Werten stehen wir. Diese Werte leben wir. Jägermeister wird heute in rund 90 Ländern weltweit konsumiert und ist damit nicht nur im niedersächsischen Wolfenbüttel, sondern auf der ganzen Welt in vielfältigen Kulturen zu Hause.

Vor dem Hintergrund unserer Werte werden wir das geplante Sponsoring des Festivals „With Full Force“ zunächst stoppen. Wir erwarten vom Veranstalter zum geplanten Auftritt der umstrittenen Band Frei.Wild auf dem Festival eine klare Stellungnahme. Sollte der Veranstalter weiterhin das Booking der Band bestätigen, werden wir unsere Sponsoring-Aktivitäten einstellen.

In Aurich wird die Diskussion spannend bleiben, auch wenn es von Fan-Seite nach dem OZ-Bericht und den WFF-Absagen (gefühlt) deutlich ruhiger geworden ist. Die Initiative gegen den Auftritt verspricht Gegenaktionen, Demos usw. Abwarten. Es wäre auf jeden Fall zu begrüßen, wenn sich Marema zu mehr als nur „früher war doch auch alles okay“ hinreißen lassen könnte. Ansonsten ist das Statement nämlich schlicht und ergreifend inhaltslos und sinnfrei.

Kreide kotzen – Römisch drei

Der Lehrerfreund schrieb auf seiner Facebook-Seite als er den Link zum ersten Artikel der Reihe teilte:

Schuld war nur der Fachleiter …
Flint berichtet, warum er sein Referendariat abgebrochen hat.

Natürlich war nicht nur der Fachleiter bzw. die FachleiterInnen Schuld. Mit „besseren“ Ausbildenden wäre die ganze Sache vielleicht anders ausgegangen, keine Frage, aber natürlich liegt der Abbruch auch in meiner Person begründet. Wie genau und was dann vielleicht doch positive und nette Erfahrungen im Referendariat waren, darum soll es im dritten Teil der Reihe „Kreide kotzen“ gehen.

Meine persönlichen Gründe für den Abbruch des Referendariats lassen sich am besten wie folgt zusammenfassen: Ich bin einfach kein guter Lehrer. Da einer meiner Fachleiter bei diesem Satz abwägend seinen Kopf hin und her bewegt hat, muss ich das etwas konkretisieren. Ich bin in meinen Augen kein guter Lehrer, weil ich meinen eigenen Ansprüchen nicht genüge und mir das Niveau nicht zusagt.1 Mir wurde von der pädagogischen Fachleitung häufiger vorgeworfen, dass ich keine Begeisterung für mein Fach ausdrücken/transportieren könne.2 Ich bin begeisterter Literaturwissenschaftler, trotz Abneigung gegenüber Goethe, und auch ein guter Politikwissenschaftler.3 Meine Begeisterung liegt aber tatsächlich eher auf einem akademischen Niveau. Mich hat es immer gefreut, wenn die Schülerinnen und Schüler (SuS) einen Erkenntnisgewinn hatten und wenn sie meine Lernziele erreicht hatten oder ich zumindest das Gefühl hatte, dass sie dies getan haben. Ein Problem mit dem „vor der Klasse stehen“ hatte ich nie, habe ich auch jetzt nicht. Ein Problem hatte ich aber tatsächlich mit dem geringen Anteil dessen, was tatsächlich als Unterrichtsgegenstand übrig bleibt, sei es, weil die Klassenstufe noch zu niedrig ist, sei es, weil die SuS einfach nicht mehr entdecken wollen. Dies mag arrogant klingen, es ist aber nun einmal so. Das Studium bereitet nicht auf die kommenden Unterrichtsinhalte vor. Das Studium ist akademisches Arbeiten auf akademischem Niveau. Unterricht ist da etwas völlig anderes. Eine Bekannte drückte es jüngst wie folgt aus:

Man stelle sich einen Bäcker vor, der nach 4-5 Jahren Ausbildung zum ersten Mal Brötchen backen muss und feststellt, dass er eine Mehlallergie hat oder einfach Brötchen formt, die keinen Absatz finden.

Hier krankt das System von Anfang an. Eignungstests zu Beginn des Studiums sind da allerdings auch Banane, weil man nach dem Studium jemand völlig anderes ist als zu Beginn desselbigen. Ein hoher Praxisanteil während des Studiums wäre da die bessere Wahl und wird auch immer häufiger gefordert.

Bei vielen meiner (ehemaligen) MitreferendarInnen ist es so, dass sie auch unter den Bedingungen der Ausbildung leiden, aber für sich selbst ganz klar und deutlich sagen: Ich bin LehrerIn und ich will es auch sein. Bei mir war dann halt die Erkenntnis, dass ich nicht der Lehrer bin, der ich gerne wäre, aber auch, dass ich im aktuellen Schulsystem mit all seinen Krankheiten und Fehlern kein Lehrer sein möchte. Entsprechend fehlte mir ab einem gewissen Punkt die Zielvorstellung und ohne diese feste Zielvorstellung ist der Stress noch einen Zacken schärfer, die Ungerechtigkeiten noch etwas unaushaltbarer und die mangelnde Transparenz noch unerträglicher. Die FachleiterInnen hatten entsprechend nicht alleinig den „Schwarzen Peter„, die endgültige Entscheidung lag in mir selbst begründet. Mit „besseren“ FachleiterInnen wäre es nur vielleicht, wie bereits erwähnt, anders gelaufen. Für mich persönlich lässt sich nur feststellen, dass die Entscheidung definitiv richtig war und ich sie seitdem in keiner Weise bereut habe, obwohl es seitdem genug unangenehmen Stress gab.

Die positiven Erlebnisse bin ich abschließend noch schuldig. Ja, es gab sie, die positiven Schülerrückmeldungen, die seltenen, aber vorhandenen Lobe der Ausbildenden. Allerdings vergleichsweise selten, was ab einem gewissen Punkt sicher auch mit meiner eigenen Wahrnehmung als Lehrer zusammenhing. Ob meine SuS mich „mochten“, vermag ich nicht zu sagen, einige sicher. Ob sie meinen Unterricht „mochten“? Ich weiß es nicht, ich selbst mochte ihn oft genug nicht. In einem Kommentar zum ersten Artikel hieß es:

Vielleicht war’s auch – neben allem anderen – nicht das Richtige für dich. Falls dem so ist, sei froh, dass du es rechtzeitig gemerkt hast. Nach der Verbeamtung schafft kaum einer mehr den Ausstieg.

Es war definitiv nicht das Richtige für mich und ich bin wirklich froh, den Absprung geschafft zu haben. Ich stehe jetzt ohne 2. Staatsexamen da4 und genau dieser Punkt der „fehlenden Berufsausbildung“ war und ist, gerade Verwandten gegenüber, manchmal schwer zu vermitteln. Sicher hätte ich das Referendariat irgendwie durchziehen können und wäre auch vielleicht ohne größere (Nerven-) Schäden herausgekommen, vielleicht hätte ich mich auch mit dem System arrangiert, um an die „Fleischtöpfe“ der Verbeamtung heranzukommen. Aber was für ein Lehrer wäre ich dann geworden?

Zu allen Artikeln der Reihe
  1. Ich habe festgestellt, dass ich tatsächlich Probleme damit habe, wirkliche Grundlagen zu legen. Ich brauche Menschen, die schon ein gewissen Vorwissen und eine gewisse Lebenserfahrung haben, auf die ich zurückgreifen kann. []
  2. „Begeisterung für das Fach“ ist übrigens eine Kategorie, die von einem anderen Fachleiter als intransparent und nicht nachvollziehbar bezeichnet wurde. []
  3. Beides ist natürlich abhängig vom genauen Gegenstand und ich halte mich tatsächlich für einen besseren Literatur-, denn Politikwissenschaftler. []
  4. Was tatsächlich ab und an ein Problem ist. []

Kreide kotzen – Römisch zwei

Das Thema dieses Mal: Feedback und Reflexionen durch FachleiterInnen und ein paar Anmerkungen, die mich nach dem ersten Artikel erreicht haben.

Jemand schrieb bei Facebook:

Auch prima fürs ohnehin desolate Ego: „Was sie können muss ich ja jetzt nicht sagen. Kommen wir zu dem, was sie noch nicht können“, ja neeee, Lob braucht ja keiner.

Während ReferendarInnen ihren Schülerinnen und Schülern (SuS) gegenüber möglichst immer in irgendeiner Form konstruktiv und positiv verstärkend rückmelden müssen, scheint dieses Gebot bei den Fachleitenden nicht zu gelten. Ja, man bekommt durchaus mal positive Rückmeldungen, auch wenn diese sich öfters auf banalem Niveau bewegen. Negative Kritik zur „Leistungsverbesserung“ ist die Regel. In wie weit dieses Vorgehen pädagogisch wertvoll ist, sei einmal dahingestellt. Zur Besprechungs- und Feedbackpraxis drückte es ein Fachleiter gegenüber einer Mitreferendarin mal wie folgt aus:

Frau XY, natürlich haben Sie auch Sachen richtig gemacht. Aber die Zeit ist knapp, da wollen wir uns auf das konzentrieren, was noch nicht so gut funktioniert.

Dieser Erwiderung gab es nach einer Anfrage der Referendarin, ob sie denn auch was richtig gemacht hätte, da in der mehr als 45 Minuten dauernden Besprechung nichts, aber auch gar nichts positives gesagt wurde.1 Sicherlich ist es so, dass erwachsene bzw. ältere Menschen besser mit Kritik umgehen können, als SuS. Die Reflexionskultur der FachleiterInnen legt aber besonderen und ganz massiven Wert auf die Betonung des Schlechten. Es ist natürlich ein Einzelfall, dass wirklich gar nichts Gutes gesagt wird, dennoch hört man von ReferendarInnen sehr häufig Kommentare wie „rund machen“, „Holzhammer“, „kein gutes Haar“, „zerissen“ usw.

In den Besprechungen wird in der Regel die gesamte Person der angehenden Lehrkraft in den Blick und entsprechend häufig unter Beschuss genommen. Anmerkungen zur Lehrerpersönlichkeit, zur Methodik, zur Didaktik, zur Körpersprache, zur allgemeinen Unterrichtsführung, zur Kommunikation mit den SuS, zum eigenen Fachwissen, all das bekommen die jungen bzw. jüngeren Lehrkräfte in einer „normalen“ Besprechung zu hören. Wo genau die Schwerpunkte liegen, ist abhängig von allen Beteiligten, vom Verlauf des Unterrichts und davon, ob gerade Mittwoch ist. „Er/Sie wurde dann auch noch persönlich“, hört man nach Besprechungen häufiger, als es gut wäre. Aber bevor wir uns falsch verstehen: Vieles von dem, was auch vom „schlechtesten“ Fachleiter angemerkt wird, ist an sich für die eigene Entwicklung wichtig. Es ist nur häufig so, dass die schiere Masse an „Baustellen“ erschlagend und demotivierend ist und dass an sich konstruktive und wichtige Kritik auch verletzend vorgebracht werden kann und leider häufig wird. Erst kürzlich hörte ich von einer Bewertung bei einem Prüfungsunterricht, die mit „persönlich“, „verletzend“ und „Holzhammer“ beschrieben wurde.2

Das Thema Prüfungsunterricht (PU) ist eigentlich einen gesonderten Beitrag wert, aber hier sei kurz auf ein prägnantes Erlebnis hingewiesen. Eine gute Freundin hatte während meines Referendariats ihren PU und ich war einer der Anwesenden. PUs sollen von ReferendarInnen besucht werden. Notizen darf man sich während der ganzen Zeit über nicht machen, man darf streng genommen dem Prüfling nicht einmal ein aufmunterndes Lächeln zuwerfen und vor allem darf man in der Auswertung nichts sagen. Man darf sich die Auswertung aber anhören. Während der Auswertung des ersten Unterrichts gab es vom „zuständigen“ Fachleiter keine großen Kritikpunkte, von den anderen ein paar einzelne. In der zweiten Unterrichtsbesprechung3 wurde gelobt, dass die Referendarin ein an sich sehr schwieriges Thema in einer dafür fast zu niedrigen Stufe probiert hat und dass sie dies auch gut gemacht hätte. Dann kam das reichlich ungeordnete und von fachwissenschaftlichen Phrasen durchsetzte „Aber“. Quintessenz der Kritik war eigentlich, dass sie das an sich schon schwierige Thema zu sehr heruntergebrochen habe4 und sie das Thema eigentlich viel komplizierter hätte bearbeiten müssen. Sie hat es also mutig und gut gemacht, aber nicht kompliziert genug. Nach dieser Besprechung waren Referendarin und stimmenlose Zuhörende entsprechend verwirrt. Vom Ablauf her war die Stunde tatsächlich runder als die davor, die Besprechung lief aber deutlich schlechter. Die Notengebung war am Ende diametral zum „Bersprechungseindruck. Die „gute“ erste Besprechung erhielt eine schlechtere Note als die zweite. Später – und das ist der kurze, wichtige Punkt, der einer solch langen Einleitung bedarf – plauderte mal jemand aus dem Nähkästchen, der die gängige Praxis der Notenvergabe beurteilen kann. „Notengeschachere“ war, glaube ich, das Wort. Häufig ginge es gar nicht so sehr um das tatsächlich Geleistete, sondern um die Selbstprofilierung der Ausbildenden. Die eigene pädagogische, didaktische, methodische und fachwissenschaftliche „Ahnung“ und Einstellung in den Vordergrund zu stellen und in der „kritischen“ Auseinandersetzung bloß nicht hinter den anderen Beteiligten zurückzustehen, das sei der wahre Kern der Notenbesprechung zwischen den Prüfenden. Überprüfen kann ich diese Aussage nicht, da ich ja nie bei einer „Notenverhandlung“ dabei war, es deckt sich aber mit den Eindrücken, die man während des Referendariats bekommt. Wenn man von der oft beklagten mangelnden Transparenz – Frau Ella wünscht sich da auch mehr – ausgeht, dann ist so ein „Geschachere“ auch nur die logische Konsequenz.5 Bereits im ersten Artikel sprach ich die mangelnde Transparenz an, die sehr schnell sehr frustrierend wird. Diese Art der „Benotung“ ist quasi das glorreiche Ende der Fahnenstange. Gott würfelt nicht, FachleiterInnen sollten es manchmal vielleicht tun.6 Und ja, es gibt sie: ReferendarInnen, die mit einer 1 vor dem Komma aus den Prüfungen marschieren und es gibt sie sogar bei den hier breit geschilderten, schwierigen Fachleitern.7

***

Nach dem ersten Artikel unterhielt ich mich mit einer Referendarin, die ihrem Fachleiter gestand, dass sie nahezu Angst vor seinen Besuchen hat.8 Seine lapidare Antwort war: „Gut so.“ Man fragt sich, was für ein Selbstverständnis jemand haben muss, dass er so an eine Ausbildung heran geht.9 Aber man hört und erlebt so einiges: Da wird aktiv in den Unterricht eingegriffen, weil der Referendar ein Arbeitsblatt mit Hintergrundmaterialien zu einem Text austeilt, der Fachleitende aber der Ansicht ist, dass alles „aus dem Text“ von den SuS erarbeitet werden muss; da müssen Referendare die Kompetenzen der APVO auswendig lernen und werden abgefragt; Fachleiter weigern sich, die Stunde zu besprechen, weil ja „Hopfen und Malz eh verloren“ sei usw.10 Natürlich gibt es auch wirklich bemühte FachleiterInnen, die ihre Aufgabe mit Einsatz und Hingabe bestreiten.11 Ein Lehrer schrieb in den Kommentaren zum ersten Artikel:

Einige Kolleginnen und Kollegen sind schon so weit, die Zusammenarbeit mit Fachseminaren komplett zu verweigern, sprich keine Referendare oder eben nur noch auf dienstliche Anweisung hin zu betreuen. […]
Meine guten Erfahrungen mit Fachleitern gibt es durchaus – aber dass sie die Regel sind, vermag ich nicht zu behaupten.

Auch an meiner Schule gab es Lehrkräfte, die sich strikt weigerten mit Fachleitern überhaupt in Berührung zu kommen.

Vielleicht noch ein anderer Aspekt, der bei den Rückmeldemethoden von FachleiterInnen interessant ist: Zumindest in Niedersachsen ist es so, dass bei den „normalen“ Lehrproben in der Regel andere ReferendarInnen anwesend sind und dass diese auch ihre Einschätzung der Stunde geben müssen. Dies ist, wie es ein Lehrer an einer Schule mal zu Beginn und zum Ende der Besprechung zum Besten gab, ein Interessens- und Loyalitätskonflikt. Gegen „gleichrangige“ Rückmeldungen sei nichts einzuwenden, dies aber in Anwesenheit der Ausbildenden einzufordern, sei für die Auszubildenden extrem schwierig. Der Rückmeldende will nämlich weder vor den AusbilderInnen noch vor den eigenen MitreferendarInnen schlecht dastehen.12 Die bewusste Manövrierung der ReferendarInnen in solch schwierige Situationen war an meinem Seminar vor allem bei einem Fachleiter an der Tagesordnung. Während der Seminare oder in Nachbesprechungen fielen Sätze wie: „Herr XY hat mir/uns gerade erst eine solche Stunde gezeigt, sowas wollen wir/will ich nicht nochmal sehen.“13 oder „An dem Tag hat ABC eigentlich Prüfungsunterricht. Aber ich kenn‘ die, die wird garantiert krank.“14 Losgelöst davon, wie „gut“ oder „schlecht“ die gezeigte Stunde oder wie „geeignet“ oder „ungeeignet“ jemand für den Beruf des Lehrers ist, solche Äußerungen ziemen sich nicht für Ausbildende, erst recht nicht gegenüber den Auszubildenden. Während das erste Beispiel einen direkten Loyalitätskonflikt darstellt15, ist das zweite Beispiel perfider. Man steckt in einem Loyalitätskonflikt zur mitleidenden ABC16 und man fragt sich automatisch, wie der entsprechende Fachleiter über einen selbst in Abwesenheit spricht. Das erste Beispiel ist übrigens nicht als ein Spaß von „Gleichen unter Gleichen“ zu verstehen. Die klare hierarchische Abgrenzung zwischen Fachleiter und ReferendarInnen wurde bei diesem „Feedback“ nicht für einen „kollegialen Spaß“, zu dem auch Fachleiter fähig sind, ausgesetzt.

Gründe für die beschriebene, größtenteils abwertende Haltung gegenüber ReferendarInnen könnte es viele geben. Gottkomplex, besonderes Geltungsbedürfnis, mangelnde Selbstreflexion, ich weiß es nicht. Das können wohl nur die entsprechenden Personen selbst beantworten. Erschreckend ist in diesem Zusammenhang der Kommentar von „Der Lehrerfreund“ unter dem ersten Artikel:

Kurz: Auswahlkriterium ist oft das bürokratische Standing, nicht aber die pädagogisch-didaktische Fähigkeit (Fachleiter/in) oder organisatorische/verwalterische Kompetenzen (Schulleitung). Das führt zwangsläufig dazu, dass einige (viele?) der Posten von großen Pfeifen besetzt werden – die man wegen ihres Beamtenstatus auch nie wieder loswird.

Es ist eine Katastrophe, dass viele, oft fähige Leute unter dieser idiotischen Struktur leiden und einen empfindlichen Stich ins Selbstbewusstsein hinnehmen müssen (“Du bist nicht fähig, mit Jugendlichen umzugehen.”).

Bedenkt man den schlechten Stand, den Fachleiter in der Regel bei den anderen Lehrkräften zu haben schein, könnte an dieser Überlegung durchaus etwas dran sein.

Weniger erschreckend, aber trotzdem eine genauere Betrachtung wert, ist der Kommentar von Marcus Manow unter dem ersten Artikel:

 Jetzt gilt es, selbst in der Aufgabe, Referendare zu “betreuen”, nicht die erlebten Fehler zu wiederholen. Problem dabei könnte sein (ist es so?): Wenn das alles stimmt, was Du und ich hier schreiben – wird sich kein Referendar trauen, mir zu sagen, dass mein Verhalten ihn verletzt. So setzt sich das dann fort…

Ich verstehe den Kommentar so, dass er jetzt in der Rolle als „Ausbildungslehrer“ ReferendaInnen betreut und nicht als Fachleiter.17 Ich deutete das Machtgefälle ja schon an und es könnte tatsächlich ein Problem sein, wenn ausgebildete Fachkräfte bewusst oder unbewusst das „Schlechte“ weitergeben, die neue Generation nichts dagegen tut und sich so die Spirale weiter fortsetzt. Dementgegen steht die, teilweise auch in den Kommentaren geäußerte Vermutung, dass FachleiterInnen gerade die Personen sind bzw. werden, die man lieber von den SuS fernhalten will. Im Kollegium meiner alten Schule wurden ähnliche Vermutungen geäußert, was wieder den Kreis zum Ansehen der FachleiterInnen bei „regulären“ Lehrkräften schließt. Pauschalisieren kann und darf man hier nicht, aber irgendwo muss diese Einstellung ja herkommen.

Zur Ehrenrettung der engagierten FachleiterInnen kann man nicht oft genug betonen, dass es sie tatsächlich gibt. Einer meiner Fachleiter hatte, obgleich wirklich hohe Ansprüche, eine gute Art Stunden zu besprechen: dialogisch und konstruktiv Alternativen aufzeigend. Während viele, nicht nur ich, aus so einigen Besprechungen bei ihren FachleiterInnen rausgegangen sind, ohne schlauer in Bezug auf Alternativen zu sein, gab und gibt es einige Ausbildende, die einem tatsächlich das Gefühl vermitteln, dass man in der Besprechung etwas gelernt hat. „Die Stunde war Mist, aber die Besprechung war gut“, ist eine mögliche Beschreibung solcher Besprechungen. Bei der zuvor genannten Spezies von Ausbildenden würde der Satz eher lauten: „Die Stunde war Mist und ich wurde total zerrissen.“ Dieser qualitiative Unterschied in der eigenen Wahrnehmung der Besprechung zeigt, wie es „gut“ und wie es „schlecht“ geht.

Manch einer mag sich vielleicht mittlerweile denken: Wenn das alles so schlimm ist, warum tun die ReferendarInnen nichts dagegen? Diese Frage ist durchaus berechtigt, die Antwort liegt meines Erachtens selbst begründet: Die Interessenvertretung vor Ort besteht in Niedersachsen aus dem Personalrat des Seminars. Dieser Personalrat besteht aus ReferendarInnen, die sich aktuell in Ausbildung befinden. Man kann Menschen vieles nachsagen, aber es bedarf schon eines besonders enthusiastischen Vertreters unserer Spezies, der die Hand beißen will, von der er abhängig ist. Abgesehen von der zusätzlichen Arbeit, die durch die Interessenvertretung entsteht, verlässt man als Personalrat nicht die Machtstrukturen. An Schulen ist das ähnlich, aber durch die meist schon erfolgte Verbeamtung nicht ganz so gravierend. Die übergeordneten Interessensvertretungen (GEW und Philologenverband) haben in jüngster Zeit auch keine dezidiert auf das Referendariat abzielenden Pressemitteilungen veröffentlich. Es sei denn, ich habe was übersehen. Über diesen Punkt habe ich, so muss ich gestehen, vorher gar nicht nachgedacht. Eigentlich ist es merkwürdig, dass die Gewerkschaften/Interessensverbände nicht viel massiver, deutlicher und medienwirksamer auf die Zustände im Referendariat und die ständig zum Thema erscheinenden Artikel berichten.

Man merkt vielleicht, dass mir beim Schreiben immer neue Dinge wieder einfallen, teilweise sind dies Dinge, die mir erst im Nachhinein wirklich bewusst werden. Ich habe auch bisher wenig zur tatsächlichen Arbeitsbelastung von ReferendarInnen geschrieben, zum Schulalltag, zu den tatsächlichen Ausmaßen des „Praxisschocks“. Die zahlreichen Artikel, die es zum Referendariat gibt, habe ich auch noch nicht systematisch ausgewertet und mit meinen Erfahrungen verglichen. Auch zu meiner eigenen Wahrnehmung als Lehrer noch nichts.18 Aber auch die positiven Sachen sollen und werden irgendwann erwähnt werden. Ich mach es nur wie einige FachleiterInnen. Ich zeige erstmal auf, was schlecht war.

Zu allen Artikeln der Reihe
  1. Ich war dabei. []
  2. Die Geschichte davor ist auch interessant, weil der eigentliche Fachleiter ins Sabbatjahr gegangen ist und der neue Fachleiter den Prüfling zum ersten Mal während des PUs im Unterricht gesehen hat. Kommt häufiger vor sowas. Man kann sich vorstellen, warum die meisten ReferendarInnen bei dem Satz „Durch die Umstellung werden Ihnen keine Nachteile entstehen“, nur noch milde lächeln und gedanklich die zu erwartenden Noten zusammenkürzen. []
  3. Es gibt immer einen Prüfungsunterricht pro Fach. []
  4. Obwohl es bei den SuS zur merklichen und auch in den Lernzielen so intendierten Auseinandersetzung mit dem Thema kam. []
  5. Persönliche Sympathien werden bei den Besprechungen natürlich auch eine Rolle spielen, das ist bis zu einem gewissen Grad nur natürlich. []
  6. So kann man sich seine Chancen zumindest vorher ausrechnen. Fächerübergreifend mit den Mathematikkollegen. []
  7. Es gibt auch Menschen, die das Referendariat mit links meistern. []
  8. Obwohl er sie tatsächlich bisher nie zerrissen hat, sondern entgegen der Regel meist gute und nette Rückmeldungen gegeben hat. []
  9. Ein Kollege und ich durften uns schon süffisant Anspielungen anhören, dass wir keine „Bildungsbürger“ seien. []
  10. Die genaue Anzahl dieser Art von Fachleidern [sic!] scheint größer zu sein, als man glauben mag. []
  11. Die Anzahl dieser FachleiterInnen scheint aber kleiner zu sein, als man glauben mag. []
  12. Einer der anwesenden Fachleiter hat tatsächlich über das Gesagte nachgedacht, die anderen haben es schlicht abgetan. []
  13. In Anwesenheit von XY. []
  14. In Abwesenheit von ABC. Die Abneigung gegenüber ABC war jedem einzelnen Wort anzumerken. []
  15. Lache ich über den schlechten Spruch? Verteidige ich XY? []
  16. Sag ich es ihr oder belaste ich sie damit lieber nicht? []
  17. Man möge mich gegebenenfalls korrigieren. []
  18. Und Reflexion, die lernt man im Referendariat eindeutig. []

Kreide kotzen – Römisch Eins

Ein paar (mehr) Semester Lehramtsstudium und dann im Referendariat merken, dass die Lehre an allgemeinbildenden Schulen nun echt nichts für einen ist. Diese Erkenntnis und der daraus resultierende Abbruch sind Dinge, die man erstmal verdauen muss. So langsam bin ich mit dem Verdauen durch und kann anfangen, die 12 Monate zu reflektieren.

Man hört immer mal wieder schlechtes über das Referendariat. Nicht alles, aber vieles davon stimmt. Einiges ist abhängig vom Bundesland, bedeutend mehr ist abhängig von den so genannten FachleiterInnen1, also den Menschen, die „JunglehrerInnen“ das nötige Handwerkszeug beibringen sollen. Bundesland, FachleiterInnen und, auf quasi unterster Ebene, SchulleiterInnen und KollegInnen zeichnen sich verantwortlich für die Ausbildung der neuen Generation an Lehrenden.

Für alle Beteiligten gilt, dass man es mit einem Querschnitt der Bevölkerung zu tun hat. Man trifft Alkoholkranke, Misanthropen, Egomanen, aber auch wirklich aufopfernde und hilfsbereite Menschen. Was auf der „untersten“ Ebene fast allen gemein ist: FachleiterInnen werden für eine ganz besondere Spezies gehalten.

Halte durch. Mach, was die sehen wollen. Danach kannste machen, wie und was du willst.

Es ist schon eine besonders negative Auszeichnung für Ausbildende, wenn so eine Meinung vorherrscht. Mir ist auch sonst kein „Ausbildungsberuf“ bekannt, in dem Ausbildende einen so negativen Stand im Rest des Berufes haben.

Diese negative Einstellung ist wohl darauf zurückzuführen, dass kaum jemand die Bewertungsmaßstäbe versteht, nach denen ReferendarInnen letztendlich bewertet werden. In der Theorie ist es so, dass die jeweils gültige APVO-Lehr vorgibt, was junge Menschen im Referendariat lernen sollen bzw. müssen. Die in der Anlage der APVO-Lehr definierten Kompetenzen klingen wichtig, sind aber sehr allgemein gefasst. In der Durchführungsverordnung steht etwas mehr, aber im Endeffekt ist es so, dass man nicht „Unterricht nach Vorschrift“ macht, sondern „Unterricht, der dem/der FachleiterIn gefällt“. Es ist also an den Ausbildenden, ihre Ansprüche und Erwartungen transparent zu machen. An „meinem“ Studienseminar gelang das einem Fachleiter, da er die Grundlagen und Bildungsziele seines Faches auch auf die Ausbildung angewendet hat. Die Ansprüche waren hoch, aber es war in der Regel nachvollziehbar, was erwartet wurde und was nicht.

Das war 1/3 meiner Fachleitenden. Über die beiden anderen kann ich wenig positives berichten. In meinem Hauptfach war es allerdings besonders „schlimm“. Man muss allerdings zwischen dem Fachlichen und dem Zwischenmenschlichen unterscheiden. Beim Fachlichen war es so eine Sache:

Während mir ein durchaus gutes Fachwissen und eine durchaus gute Allgemeinbildung attestiert wurden, merkte man doch häufiger, dass auch beim Fachwissen die Vorlieben des Fachleiters entscheidend waren. Wenn man zugab, dass man mit Goethe, bis auf kleinere Ausnahmen, wenig anfangen kann, so wurde dies zwar als „Ehrlichkeit“ geadelt, nur um kurz darauf im GAST2 zu einer Abneigung gegen Goethe, Kleist und sonstwen zu mutieren. Man solle doch auch überlegen, ob man, wenn man Goethe nicht möge, als Deutschlehrer geeignet sei. Die persönlichen Vorlieben sind bestimmend. Besonders deutlich wurde dies beim Thema der 2. Staatsexamensarbeit.3 Während bei der Themenbesprechung4 alles gut war und das Thema auch angenommen wurde, verging danach kaum ein Gespräch in dem nicht betont wurde, dass Filme ja nicht Bestandteil des Deutschunterrichts seien.5 Es ist „hinterfotzig“, wenn man solche grundlegenden Ansichten erst offenlegt, nachdem schon ein entsprechendes Thema eingereicht wurde. Wie sollte ich mich als Referendar eigtl. fühlen, wenn mir regelmäßig deutlich gemacht wird, dass mein zu bearbeitendes Thema nach Ansicht des Prüfers nicht Bestandteil des Deutschunterrichts ist? So ein Verhalten ist intransparent und vor allem zwischenmenschlich völlig daneben.

Zwischenmenschlich, ja das Zwischenmenschliche ist auch so eine Sache. Bei einem Unterrichtsbesuch6 stand mein Deutschfachleiter mit der Pädagogik-Fachleiterin und einem Mitreferendar im Lehrerzimmer meiner Schule und alle warteten auf mich. Mein Klassenraum war etwas vom Lehrerzimmer entfernt, also brauchte ich etwas. Der Fachleiter sagte7 während des Wartens wohl folgendes:

Das tut dem Herrn Flint mal ganz gut, sich etwas mehr zu bewegen.

Wertende Kommentare über mein Gewicht. Ach, wie erfrischend. Ich könnte ja jetzt was darüber sagen, was dem Herrn Fachleiter mal ganz gut tun würde, aber das wäre unsachlich.8 Andere, meist männliche Referendare, hatten und haben von diesem Fachleiter übrigens ähnlich persönliche Äußerungen zu berichten. Eine Freundin, die an einem anderen Studienseminar war, sagte zu meinem Abbruch:

Kann ich verstehen. War die härteste Zeit meines Lebens und jeder, der sagt, er lässt sich nicht erniedrigen [und hört deswegen auf], für den habe ich vollstes Verständnis.

Natürlich ist es nicht nur so, dass die Bewertung kryptisch ist. Man bekommt recht schnell ein Gefühl dafür, was die Ausbildenden sehen wollen und was nicht. Was allerdings schnell verloren geht: Der Glaube an und die Achtung der eigenen Fähigkeiten. Zu Beginn des Referendariats sagte der damalige Seminarsleiter:

Sie werden viel Kritik zu hören bekommen, aber vergessen Sie nie: Sie sind erwachsene Menschen mit einem Universitätsabschluss.

„Ich habe schon etwas erreicht!“ Diese Einsicht wird wahrscheinlich für viele während des Referendariats zum Mantra.9 Und man muss es sich tatsächlich immer wieder vor Augen halten, dass man schon etwas geschafft hat. Durch die Struktur der Lehrerbildung in Deutschland startet man mit viel Fachwissen und wenig Praxiswissen in den Berufsalltag. Dabei ist es nur logisch, dass man viele Baustellen hat, auf denen man gleichzeitig arbeiten muss. Das bisschen Methodik und Didaktik, welches man während des Studiums mitbekommt, rettet einen nicht wirklich über das Referendariat. Planung und Durchführung von Unterricht ist ein Knochenjob mit viel Verantwortung. Entsprechend erstaunlich ist es, dass man kaum etwas positives über die Praxisausbildung hört. Die Erkenntnis, welche einen fast zwangsläufig ereilt, wenn man selbst im Referendariat ist oder wenn man Artikel über die neuesten Eskapaden eines Kultusministeriums hört, ist einfach: Es ist politisch gewollt, dass junge Lehrende an ihre Grenzen und über die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit hinaus getriezt werden. Das Referendariat ist ein Boot Camp für die Nerven und das eigene Selbstwertgefühl.10 Ebenso politisch gewollt ist es aber, dass die Ausbildung der Referendare zu weiten Teilen jeglicher Kontrolle und Evaluation entbehrt. In der Wikipedia steht ein Satz, den man leicht überliest:

Bemerkenswert ist, dass weder für den Beruf des Lehrers noch des Juristen eine qualifizierte Evaluation des Referendariats vorliegt.

Erschreckend ist dieser Umstand aber nicht nur auf Grund des Berufes, der da ausgebildet wird.11 Erschreckend ist diese fehlende Evaluation und Beobachtung auch, wenn man Sätze wie diesen hier liest:

Der Personalrat [des Studienseminars Meppen] begrüßte die Neuankömmlinge mit dem Satz: „Wir sind das Studienseminar in Niedersachsen mit der höchsten Selbstmordrate.“

Auch an meinem Studienseminar gab es, soweit ich weiß, in den letzten Jahren mindestens einen Selbstmord. Was genau Menschen in den Selbstmord treibt, kann natürlich nicht genau gesagt werden, das sind stets Einzelfälle. Was aber an die Nieren geht, ist, neben dem Stress, Kritik, die unsachlich gegen einen selbst gerichtet ist. Beispiele habe ich schon in Ansätzen geliefert, vielleicht noch ein anderes „Kleinod“, welches für sich genommen harmlos ist, aber in der Gesamtschau seinen Teil beiträgt:

Sie haben ‚okay‘ gesagt. ‚Okay‘ ist der Sprache eines gymnasialen Deutschlehrers nicht angemessen.

das mag harmlos klingen, aber es sagt viel über die subjektiven Vorstellungen und Bewertungsgrundlagen einiger Fachleiter aus.
Für diesen Teil abschließend noch eine Beobachtung aus dem Seminaralltag. Als angehende Lehrkraft wird einem unter anderem eingetrichtert, dass man Methoden nicht um der Methode willen einsetzen soll, sondern Methoden immer als adäquates Mittel zur Erreichung der Lernziele einsetzt. Gerade im pädagogischen Seminar sah es aber zum Beispiel so aus, dass zu 99% Gruppenarbeiten eingesetzt wurden, welche man entsprechend nach spätestens zwei Monaten nicht mehr sehen konnte. Ferner klappte die Zeitplanung in 99% der Fälle beim pädagogischen Seminar nicht, so dass es selten zu einer wirklichen Reflexion der „Inhalte“ kam. Konkrete Arbeitsanweisungen waren auch gerne mal etwas, was zwar die ReferendarInnen immer liefern mussten, was aber von den Ausbildenden des Öfteren sträflich vernachlässigt wurde. Wenn ein ganzer Raum voller Akademiker überhaupt nicht versteht, was gerade passieren bzw. wie genau das Thema jetzt eigentlich bearbeitet werden soll, dann liegt der Fehler eher selten bei dem Raum voller Akademiker. Besonders ärgerlich und frustrierend wird es dann, wenn die mangelnde Klarheit der Arbeitsanweisung in einem „falschen“ Ergebnis mündet. Aus dem Deutschseminar:

„Erschließen Sie den Text für sich“, das war die Arbeitsanweisung. es ging um einen Zeitungsartikel. Wir erschlossen für uns, jeder für sich. Danach forderte der Fachleiter uns auf, unsere Randnotizen vorzulesen. Die Ergebnisse wurden von ihm mit „versteh ich nicht“ quittiert. Natürlich versteht er es nicht. Wir sollten a) den Text für uns und nicht für eine andere Person erschließen und b) die Notizen so vorlesen, wie sie bei uns auf dem Zettel standen. Der Fachleiter wollte Strategien der Texterschließung darstellen, hat so aber höchstens die Inkonsequenz der eigenen Ansprüche dargestellt.12

Die Lehramtsausbildung befindet sich in einem merkwürdig losgelösten Raum zwischen Realität und Anspruch, zwischen Machbarkeit und Wunschtraum, zwischen Vorbereitung/Ausbildung und verheizen von jungen Menschen.

Diese Reihe wird in unregelmäßigen Abständen fortgesetzt. Mittlerweile häufen sich die Meldungen von ehemaligen MitreferendarInnen, die aufgehört haben. Vielleicht ist ja jemand bereit, über die Gründe zu reden.

Zu allen Artikeln der Reihe
  1. Ich gehe jetzt immer von Niedersachsen und meinen Erfahrungen an „meinem“ Studienseminar aus. []
  2. Gespräch zum Ausbildungsstand []
  3. Also bei dieser 15 Seiten Alibiarbeit, die wohl angeblich demnächst abgeschafft wird bzw. teilweise schon abgeschafft ist. []
  4. grob: Film im Deutschunterricht. []
  5. Ein Standpunkt, der sowohl faktisch als auch praktisch sehr zu hinterfragen ist. []
  6. Oder war es nicht sogar eine Lehrprobe? []
  7. Im Lehrerzimmer, dabei lachend. []
  8. Und im Gegensatz zu diesem gestandenen Herrn habe ich verstanden, wie man professionell miteinander umgeht. []
  9. Bei mir auch, aber es reichte irgendwann einfach nicht mehr. []
  10. Von den Auswirkungen auf das Privatleben einmal ganz zu schweigen. []
  11. Lehrer entscheiden über die Zukunftsaussichten vieler Kinder. []
  12. Solche und ähnliche Beispiele gab es öfters. Kettenfragen, Ein-Wort-Antworten, „raten“ von Seiten der ReferendarInnen, weil Fachleiter genau ein Wort hören wollte usw. []

Die ARD, der Turm und die Wendeltreppe

Am 3. und 4. Oktober 2012 war es so weit: Die angekündigte Verfilmung des Romans „Der Turm“ von Uwe Tellkamp wurde gesendet. Was der Feuilleton und viele Zuschauer größtenteils loben und den Autor der Romanvorlage sogar zu Tränen gerührt hat, hat mich und auch den Flint, bis auf wenige Ausnahmen, doch ziemlich enttäuscht.

Kommen wir zuerst mal zu dem, was ich positiv anzumerken habe. Die Besetzung für den Film wurde sehr gut, und größtenteils zu den Rollen passend, besetzt. Sebastian Urzendowsky überzeugt als Christian Hoffmann und haucht dem unsicheren, in sich zurückgezogenen, hin- und hergerissenen Schüler und späteren NVA-Soldaten souverän Leben ein. Auch Claudia Michelsen, die Christians Mutter Anne spielt, liefert eine hervorragende Darstellung des eigentlich zentralen Punktes der Familie Hoffmann.1 Die leichte Veränderung der Figur durch den Drehbuchautor tut ihr gut, in diesem Punkt stimme ich mit verschiedenen Besprechungen des Films überein.  Auch die eine oder andere Szene hat mich zum Schmunzeln gebracht oder mir einen dicken Kloß im Hals beschert, diese lassen sich allerdings an einer Hand abzählen.2

Was mich bei der Figurenumsetzung dagegen massiv stört, sind die Darstellungen Meno Rhodes und Judith Schevolas, dies allerdings nicht aufgrund von schlechten Schauspielerleistungen. Meno, der eigentlich eine Art Erzähler im Roman darstellt, indem Tagebuchseiten von ihm immer mal wieder die Handlung erzählen, wird zum opportunen Duckmäuser heruntergebrochen, der sich in die Autorin Schevola verguckt. Dabei geht der Film zum Ende hin soweit, ihn fast zum Stalker zu machen. Der Meno Rhode im Roman ist zugegebenermaßen eine Lieblingsfigur – sowohl von mir, als auch von Flint – aber diesen Status hat diese Figur auch verdient. Er ist integer, loyal, weiß wo er steht und was er will. Auch im Buch ist er eine zweite Vaterfigur für Christian, bleibt aber nicht einfach nur der „Kumpel-Onkel“, sondern unterrichtet Christian gelegentlich fast härter als seine Lehrer, was im Film ebenfalls komplett verloren geht. Außerdem ist er studierter Biologe, nicht Geologe, wie der Film vermuten lässt.

Judith Schevola nimmt, wie auch im Film, kein Blatt vor den Mund. Sie bleibt selbstbewusst, auch nachdem sie aus dem Verband der Geistestätigen geworfen wird. Trotz der harschen Kritik an ihrem Manuskript, erfährt sie doch viel Zuspruch von fast allen Literaten aus der Schrifstellervereinigung und sogar von Barsano selbst3.

Die Armeezeit, wie im Film dargestellt, weckt Assoziationen zu Filmen wie „Full Metal Jacket“. Jan Burre ist auch im Roman derjenige, der von allen anderen, außer Christian, regelmäßig schikaniert wird. Jedoch ist er nicht nur unbeholfen, sondern scheint auch psychische Probleme zu haben, die ihn – im Gegensatz zum Film – im Buch das Leben kosten. Burre einfach nur auf den fetten Nichtskönner zu reduzieren, der aufgrund seines Gewichtes an einem Herzinfarkt stirbt, ist aber wahrscheinlich die einfachste Lösung, wenn man die Schauspieler nicht in einem Panzer drehen lassen möchte.

Kommen wir nun zu den Problemen, die ich bei der Gesamtumsetzung sehe: Das Bildungsbürgertum, das die „Türmer“4 repräsentieren, geht vollkommen verloren. Die Menschen, die das Viertel „Turm“ im Roman bevölkern, ziehen sich nicht nur einfach in ihre Wohnungen zurück. Nein, sie flüchten sich in eine vergangene Zeit, noch vor dem Zweiten Weltkrieg – das Alte Dresden. Sie flüchten mit Hilfe von alten Schallplatten mit Aufnahmen aus der Semperoper5, sie verehren Fritz Löfflers Bildband „Das Alte Dresden“, als wäre es die Bibel und sie entsorgen die gesammelten Tageszeitungen einmal wöchentlich in einem eigenen Ritual in den Mülleimer vor dem Haus. Diese irgendwie kautzige Wirkung hat im Film allenfalls noch Christian, wenn er Cello spielend oder lesend in der Schule gezeigt wird und erzählt, was er denn da liest. Der Wert solcher Dinge, wie Hausmusik, geht völlig verloren. Diese fehlende Betonung der Subkultur, in der die Familie Hoffmann lebt, finde ich äußerst problematisch, da sie so von den Zuschauern des Films als „normale“ DDR-Bürger gesehen und die zum Teil ganz eigenen Probleme und Lösungsversuche6 vollkommen unsichtbar werden. Zuschauern des Filmes, die das Buch nicht gelesen haben, wird so ein falsches Bild vermittelt.

Zusätzlich wird der Untergang des Staates nur zur Kulisse des Untergangs der Familie, die allerdings keine Auswirkungen des Zerfalls des Staates zu spüren bekommt, bis 1989 ist und die Wahlen anstehen. Auf einmal geht man zu Lesungen in die Kirche und redet von Wahlbetrug. Vorher werden selten Mangelwirtschaft und krankendes System zum Thema. Nur innerhalb des Krankenhauses wird zum Beispiel auf fehlendes Verbandsmaterial und bröckelnde, schimmlige Wände hingewiesen und sich darüber beschwert. Da verwundert es auch nicht weiter, wenn die Assoziation zu Thomas Manns Buddenbrooks für manche Rezensenten extrem nahe liegt.

Zuletzt ein Thema, dass mir persönlich am Herzen liegt: Die Musik. Im Buch hat Musik einen besonderen Stellenwert: es wird musiziert und gesungen, Musik wird gehört und verglichen, geträumt und gefeiert – ihr wird sogar ein eigenes Zimmer in der Wohnung gewidmet. Spielt Musik in Christians Umfeld oder in der Öffentlichkeit, dann hört man Klischee-Ost-Bands wie Silly oder City, was auch im Buch gelegentlich der Fall und für einen Film, der sich mit der DDR befasst, durchaus gerechtfertigt ist. Untermalt die Musik Szenen im Film, finde ich (als begeisterte Turm-Leserin) es äußerst schade, dass nicht ein einziges Mal auf die Wagner-Vorliebe der Türmer aus dem Roman eingegangen wurde. Stattdessen wird die durchaus amüsante Szene mit der Kokosnuss mit Mozarts Requiem unterlegt. Was will der Regisseur dem Zuschauer damit sagen?7 Die Frage kann wahrscheinlich nur er beantworten. Auch bei der Hochzeit von Ina Rhode und Dr. Wernstein hätte es eine Gelegenheit gegeben, Wagner einzubauen, aber Walzer aus Tschaikowskis Nussknacker sind halt einfach die passenderen für eine Hochzeit im Sommer.

Als Fazit lässt sich also ziehen, dass die Verfilmung des Turms, bis auf einige Lichtblicke, enttäuscht. Natürlich ist der Roman im Ganzen nicht zu verfilmen, dafür ist er ein zu mächtiges Werk. Dieses aber so weit zusammenzukürzen, dass von einem soliden Turm nur noch eine Wendeltreppe übrig bleibt, die nicht fest in der Wand verankert ist, macht es vielleicht darstellbarer, aber nicht nachvollziehbarer.8 Darüber trösten auch die besten Sendezahlen nicht hinweg.

  1. Ohne Anne als Frau, Schwester und Mutter gäbe es die Konstellation Richard, Meno, Christian nicht. []
  2. Der Weihnachtsbaumklau, das Amüsement über den verkrüppelten Baum in der Kirche im ersten Teil, sowie der kurze Auftritt von Chakamankabudibaba,  Menos Kater, im zweiten Teil und die Szene am Bahnhof. Das war es dann auch schon. []
  3. wenn ich das noch richtig im Kopf habe []
  4. die übrigens mehr Personen, als nur Familie Hoffmann und Richards Kollegen umfassen []
  5. besonders Wagners Tannhäuser in verschiedensten Aufnahmen []
  6. Christian und seine Geschwister bekommen zum Beispiel Unterricht im Lügen von einem Schauspieler []
  7. Dass er kein Gefühl für Zusammenhänge hat? Dass er das Requiem mag und es irgendwie einbauen wollte, egal wo? Wollte er auf diese Weise die Marter der Kokosnuss verdeutlichen, die sich erfolgreich gegen jeden Knack-Versuch wehrt? []
  8. Wer das Buch nicht gelesen hat, kann grade im ersten Teil aufgrund der Schnitte schnell den Faden verlieren []

Die Uhren schlagen ins Leere

Am 3. und 4. Oktober 2012 kam die TV-Verfilmung von Uwe Tellkamps „Der Turm“ auf ARD. Schon im Vorfeld wurde der Film mit eigentlich durchweg positiven Kritiken belegt. Um es vorweg zu nehmen: Ich persönlich teile diese Kritiken nicht. Von Tellkamp eindringlich gestaltete Settings und Charaktere wurden verkürzt und verflacht, mehr als durch den Medienwechsel notwendig gewesen wäre. Ein paar Beispiele, die durchaus Spoiler in Bezug auf Buch und Film enthalten: Das Ehepaar Hoffmann war im Film keine Bildungsbürger mehr, sondern fremdgehende Kirchgänger. Christian Hoffmanns Entwicklung, die durchaus in vielen Punkten dem klassischen Bildungsroman gleicht, wurde ebenso verflacht, so dass wichtige Szenen kaum aus der Menge heraus stachen.1

Viel, wirklich viel kann man über diesen Film schreiben.2 Einiges davon wird Die Praktikantin sicherlich noch aufnehmen. Mir geht es aber zunächst nur um das Ende des Films.

Das Buch endet mit einer Art „Polyphonie“. Versatzstücke aus realen und erdachten Dialogen vermischen sich, größtenteils verbunden durch die leitmotivische Wiederholung und Steigerung der Wendungen „…aber dann auf einmal…schlugen die Uhren“ bzw. auf der letzten Seite:

…aber dann auf einmal…

schlugen die Uhren, schlugen den 9. November, >>Deutschland einig Vaterland<<, schlugen ans Brandenburger Tor:

Rebekka Bolzek schrieb in ihrer BA-Arbeit zur „Bedeutung der Musik in Uwe Tellkamps ‚Der Turm'“:

Das Tempo des Finales in Tellkamps Roman kann im Gegensatz zu den vorherigen Teilen […] als deutlich gesteigert und auch die Grundstimmung kann teilweise als fröhlich, fast überschwänglich empfunden werden. Die erzählten Episoden werden kürzer und wechseln sich häufiger ab.3

Der Film steigert das Tempo zum Finale hin nicht. Es gibt die Radiodurchsagen, die „Wiedervereinigung“ der Familie, zumindest in Teilen und Christian, wie er buchstäblich seinen eigenen Weg geht. Anstatt in den Kreis der Familie zurückzukehren, geht Christian Hoffmann einfach los.4 Die letzten Einstellungen zeigen ihn, wie er durch unberührte Natur läuft und Zugvögeln hinterherblickt.

Auf den ersten Blick ähneln sich das Buch- und das Filmende. Das Buch schließt mit einem Doppelpunkt. Hinter diesem Doppelpunkt kommt nichts, es folgt quasi das Nicht-Vorhersehbare, das unbestimmte. Eine ähnliche Funktion erfüllen auch Zugvögel, wenn sie am Himmel in Richtung ihres Zieles fliegen. An dieser Stelle hören die Ähnlichkeiten aber schon auf. Zugvögel wissen, mehr oder weniger genau, wohin sie fliegen. Diejenigen, die sich mit einem Doppelpunkt konfrontiert sehen, wissen dies nicht.5 Nun kann man, berechtigterweise, einwerfen, dass der Christian Hoffmann im Film auch nicht weiß, wohin seine Reise geht. Stimmt.6 Der Film unterlegt den „Beginn“ von Christians Reise aber mit einer ruhigen, zuversichtlichen Musik, die dem Zuschauer suggeriert, dass ab jetzt alles gut ist.

Im Buch wird die komplette Welt der „Türmer“ durch die schnellen Szenenwechsel, das „Stimmengewirr“, die teilweise sehr abstrusen Gesprächsfetzen demontiert, ja fast brachial zerstört. Was vorher schon im Wandel war, scheint im Buch im Finale endgültig in einem alles verändernden Malstrom zu verschwinden. Begleitet wird diese Dekonstruktion durch das einfache, aber wirkungsvolle Motiv der „schlagenden Uhren“. Uhren schlagen, wenn sie die Stunde anzeigen. Im Finale des Romans schlägt also irgendeine Stunde bzw. die Stunde schlägt irgendetwas/irgendwem. Die Wendung „schlagen die Uhren“ weckt Assoziationen mit lauten Gongschlägen und in Verbindung mit den schnellen Szenenwechseln die Assoziation mit etwas nahendem, vielleicht bedrohlichem, vielleicht gutem, was am Ende des Stundenschlages ankommt. Im letzten Satz schlagen die Uhren dann gegen das Brandenburger Tor. Das Bild des Stundenschlages wird also ergänzt durch einen „Ansturm gegen die Grenze“, die Schläge werden zielgerichtet(er). Dies ist das genaue Gegenteil von „unberührter Natur und friedlich dahinziehenden Wildgänsen“.

Die Entscheidung, die komplette Geschwindigkeit aus dem Finale zu nehmen, ist nur schwer nachvollziehbar. Vielleicht gingen die Macher davon aus, dass „die Zuschauer“ eher ein typisches Ende für Fernsehfilme erwarten.7

Es bleibt ein Film, der, auch wenn er schöne Szenen hatte, leider tiefe Enttäuschung zurücklässt. Uwe Tellkamp soll angeblich zu Tränen gerührt gewesen sein, als er den Film sah. Ich frage mich wirklich, warum.

  1. Immerhin „durfte“ er noch Reina fast vergewaltigen. Diese an sich schon drastische Tat wird aber im Film durch das „Wald-und-Wiesen-Setting“ eines Stücks der eigtl. Brutalität beraubt. Im Buch versucht Christian Reina in einem dreckigen Hausflur zu vergewaltigen. []
  2. Die verwendete Musik! Diese Musik! []
  3. Bolzek, Rebekka: Die Bedeutung der Musik in Uwe Tellkamps „Der Turm“. Magdeburg, 2011 [unveröffentlicht] []
  4. In einem Pulk anderer, junger Leute, was wahrscheinlich eine Art „Übergabe“ der „Alten“ an die „Jungen“ darstellen soll. []
  5. Höchstens aus der Geschichte, aber das sind die Leser, nicht die Protagonisten. []
  6. Die Zugvögel sind hier sicher auch ein Bild für die neue Freiheit. []
  7. Versöhnlich, ruhig, irgendwie „schön“. []

Wahlkampf und keiner merkt es

Gremienarbeit und Gremienwahlen sind immer wieder eine gute Gelegenheit, um eine ganz besondere Art von Artikel zu finden. Oft genug beschweren sich Menschen über die Arbeit einer bestimmten Gruppe, den Wahlkampf (von allen Gruppen) oder über das fehlende Engagement in Bezug auf die Strukturierung des Toilettenpapiers. Im letzten Jahr war der RCDS Watchblog ein guter Fundort für mehr oder weniger typische Meckerei. Nach anfänglichen Schwierigkeiten hat es der Watchblog aber geschafft, dass die Argumentation halbwegs nachvollziehbar war.1

Dieses Jahr kommt ein interessanter Artikel aus einem anderen Lager, nämlich von FixIT.

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  1. Trotzdem(?) wurde der Blog nicht weitergeführt. []

Emder Lynchmobs

Die Entwicklungen um den Mordfall an dem 11jährigen Mädchen aus Emden drehen sich aktuell, wahrscheinlich aus Mangel an Tatverdächtigen, um die Äußerungen verschiedener Menschen bei Facebook. Wer mich kennt oder meine Äußerungen zu dem Thema auf Facebook mitverfolgen konnte, der weiß, dass ich kein Freund von „Todesstrafe für Kinderschänder“, Forderungen nach Selbstjustiz und Lynchmobs bin. Nur sollte man auch bei Themen, die einen selbst in Rage bringen, im Falle einer Berichterstattung versuchen, halbwegs sachlich zu bleiben.1 Stellvertretend für verschiedene Artikel, sei an dieser Stelle auf publikative.org verwiesen, die just den Artikel „Der Mob“ veröffentlicht hat. Der Artikel beginnt u.a. mit folgendem Absatz, der die Entwicklungen an sich recht treffend zusammenfasst:

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  1. Oder man schreibt Rant drüber bzw. macht deutlich, dass es sich um einen solchen handelt. []

Sensible Berichterstattung

In Emden hat sich dieser Tage ein schlimmes Verbrechen ereignet. Ein 11jähriges Mädchen wurde tot in einem Parkhaus gefunden, die Polizei ist sich sehr sicher, dass das Mädchen einem Gewaltverbrechen mit sexuellem Hintergrund zum Opfer gefallen ist. Die Ermittlungen sind noch in vollem Gange, was den örtlichen Zeitungen Gelegenheit gibt, ganz viele Artikel zu veröffentlichen. Der Facebook-Account der Ostfriesen Zeitung (OZ) mutete deswegen zwischenzeitlich wie ein Live-Ticker an. Die teilweise eher bescheidenen Kommentare verschiedener Facebook-Nutzer unter den Artikeln lassen einen teilweise schon am gesunden Menschenverstand zweifeln, was allerdings die „Schwesterzeitung“ der OZ, die ON (Ostfriesische Nachrichten), heute rausgehauen hat, das hat mir beim Frühstück mein essen wieder hochgetrieben. Kurze Vorgeschichte:

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Kraken

Wenn ich meine Timeline so beobachte, dann habe ich manchmal das Gefühl, es sei gerade „in“, die Piraten für alles mögliche fertig zu machen. Besonders „in“ sind (mal wieder) die Vorwürfe, dass die Piratenpartei antisemitisch sei bzw. genau: sich antisemitischer Symbolik bedienen würde. Dies geht zurück auf das Logo, welches u.a. die Piratenpartei für ihre Proteste gegen ACTA benutzt. Das entsprechende Logo sieht man auf der entsprechenden Seite überall. Um lästiges hin und her springen zu vermeiden, die übliche Variante nachfolgend:

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