Der Morgen danach

„Die Einschläge kommen näher.“

Die Kriegs- und Kampfrethorik ist heute allgegenwärtig. New York war vor fast genau 15 Jahren weit weg. Seitdem verschwimmen die Gewalttaten zwischen Terror und Amokläufen zu einem Bild der dauernden, gefühlten Bedrohung, der dauernden Gewalt. Der Automatismus in den Medien läuft ab, es wird über Hintergründe spekuliert, man wird aber auch besser, man hat mehr Angst vor Falschmeldungen.

„Die Einschläge kommen näher.“

Am Freitag, 22. Juli 2016, fahre ich mit Der Praktikantin und einigen Freunden nach Oldenburg zum Kultursommer. Wir freuen uns auf das Konzert von Isolation Berlin, rotzig und irgendwo zwischen Rio Reiser und Tocotronic. Schon beim Treffen, ein Bekannter fährt und holt uns ab, die ersten Meldungen, dass irgendwas in München passiert. Die Fahrt, die Freude auf das Konzert und der schöne Sommerabend verdrängen den Süden Deutschlands aber schnell. München ist weit weg.

„Ich hab‘ endlich keine Träume mehr.“

Langsam sickert München wieder ins Bewusstsein. Wir stehen auf einem öffentlichen Platz, inmitten einer Menschenmenge. Die Tweets der Polizei München holen Bayern auf mein Smartphone. Besonnene Reaktionen, mein Blick fällt auf das Einkaufszentrum am Oldenburger Schlossplatz. Das Gefühl ist mulmig, Facebook schaltet den Safety Check. „Wen kenne ich eigentlich in München?“, blitzt es in meinem Kopf auf. Der Safety Check sagt mir: sechs Leute. Drei haben den Safety Check bestätigt, drei nicht. Ich gucke auf ihre Profile, „We’re safe“ heißt es auf dem einen, auf dem anderen würd eine #offenetuer angeboten. Das dritte Profil wird schon so kaum benutzt, kein Safety Check, nichts. „Wird schon alles gut sein.“

„Just like that the Frighteners take the stage.“

Mein Gehirn kramt nach allem, was mit München zusammenhängt. Schneller Check bei einem Freund, der Familie in München hat. Schnell? Er braucht eine Stunde zum Antworten: „Jo.“ . Ein Video taucht in meiner Timeline auf, jemand, den ich erst vor Kurzem kennenlernte, sagt: „Es geht uns gut.“ Stimmt, da war ja eine Reise nach München. Um mich herum wird gelacht und Bier getrunken. München, München, irgendwie kommt es näher, Verbindungen in die bayrische Hauptstadt, die vorher unbewusst existierten, werden klar. Das Gefühl bleibt mulmig. Ich nippe an meinem Bier.

„Kotzt mich das alles an.“

Wieder Zuhause. Es ist kurz vor Mitternacht. Der Live-Ticker dreht sich im Kreis. Acht Opfer. Der Täter eventuell auch tot. Immer noch unklar, wie viele Täter es gab. „Wir werden unsere Arbeit machen.“ Der Pressesprecher der Polizei, der dringend nötige Anker im Chaos. Chats mit gutem Freund. Derjenige, der Familie in München hat. „Alles gut. Nur es bricht mich an.“ Irgendwann die Entscheidung, zu schlafen. Gefühle der Hilf- und Ratlosigkeit.

„I don’t like mondays.“

Der Morgen danach. Die Polizei weiß mehr. Einzeltäter. Amoklauf, keine Hinweise auf religiöse Motive. Ich stehe auf dem Balkon, ein Nachbar, zwei Häuser weiter und zwei Stockwerke tiefer, sitzt im Schatten seines Gartenhäuschens. „I don’t like mondays“ spielt im Radio. Ein Lied, dessen Hintergrund im Dunst der Zeit verschwunden und durch die Melodie verborgen wird. Der Nachbar steht auf und verschwindet. Der Platz ist leer, das Lied spielt weiter. Der Morgen danach. Ich schließe mich an: Es bricht mich an.

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