Renazifizierung

Die aktuellen Debatten rund um Flüchtlinge zeigen vor allem: Wir sind dabei, unsere Menschlichkeit zu verlieren, uns zurückzuentwickeln, unsere Kultur über Bord zu werfen. Unsere Kultur über Bord zu werfen? Ist es nicht gerade die deutsche Kultur, die heute allerortens – vom Hindukusch bis Castrop-Rauxel – verteidigt und bewahrt werden soll? Die besorgten Bürger zwischen Stammtisch und CSU behaupten das, aber so wirklich stimmen kann das nicht.

Auf dem ökumenischen Neujahrsempfang in Brake erklärten verschiedene Pastoren, warum man nicht pauschal gegen Flüchtlinge hetzen soll. Die Praktikantin fragte mich, warum man das Christen eigentlich erklären müsste. Weil Christen ihre eigene Religion nicht verstanden haben, zumindest die besorgten Christen, die ständig den Untergang des Abendlandes befürchten, nicht. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ ist eine der Grundfesten des Christentums, geboren aus der Tora. Warum man das manchen Christen erklären muss? Vielleicht, weil viele Christen überhaupt keine Ahnung von ihrem eigenen Glauben haben und sich durch alles, was „fremd“ ist, bedroht fühlen. Eine Art der Anti-Aufklärung, die dafür sorgt, dass Gotthold Ephraim Lessing sich zusammen mit Nathan im Grab umdreht. Wir entwickeln uns zurück, wir renazifizieren uns selbst.

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Die Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte haben mit dem Wurf einer Handgranate einen weiteren, traurigen Höhepunkt erreicht. Es ist in Deutschland wieder so weit gekommen, dass Menschen massiv aufgrund ihrer „Andersartigkeit“ angegriffen werden. Handgranaten, Brandanschläge, Beschimpfungen: Die Würde des Menschen ist antastbar, die körperliche Unversehrtheit sowieso. Wir diskutieren darüber, ob „Mein Kampf“ immer noch gefährlich ist, anstatt zu erkennen, dass es auch ohne die geistigen Wirren Adolf Hitlers mit der Rückkehr zu den deutschen Werten in den Grenzen von 1933 bis 1945 ganz gut geklappt hat. Rechtsradikale Hintergründe bei Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte und Asylantenheime werden landauf, landab von Polizei und Gerichten regelmäßig negiert, wir haben den NSU immer noch nicht aufgeklärt, wissen aber innerhalb von kürzester Zeit, dass die RAF-Rentner für einen Raub verantwortlich waren. Wir entwickeln uns zurück, wir renazifizieren uns selbst.

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2002 wurde, als Reaktion auf vermehrte Amokläufe an Schulen, der Kleine Waffenschein in Deutschland eingeführt. Ein Waffenschein, der nicht wirklich etwas bewirkt hat, bis heute. Seitdem besorgte Bürger das Abendland untergehen sehen, wird der kleine Waffenschein immer beliebter. „Ich will mich wieder sicher fühlen“, so die häufige Begründung. Wie eine Vermehrung von Waffen zu mehr Sicherheit führt, das können nicht einmal Amerikaner erklären. Aus dem Land der Dichter und Denker wird der Wilde Westen.

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Von Bürgerwehren liest man heute immer häufiger. Besorgte Bürger leiden unter einer imaginierten Bedrohungslage, die der Staat nicht mehr bewältigen kann. Wer dagegen ist, wird aus der Volksgemeinschaft geschasst. Wer Bürgerwehren gegen besorgte Bürger will, ist ein grünlinksversiffter Gutmensch. Rechte Ängste werden ernst genommen, linke Ängste ignoriert. Die Zeit der Anti-Aufklärung wischt sich mit dem Humanismus den Hintern ab. Wir entwickeln uns zurück in die Grenzen von ’44, wir renazifizieren uns selbst.

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Wir haben ein neues Feindbild gefunden: Abgesagte Umzüge, Weihnachtsmärkte, die das Wort „Weihnacht“ nicht mehr im Namen tragen, die umgewehte Mülltonne des Nachbarn und das Versagen des eigenen Kindes in der Schule: Schuld sind die Anderen, die Muslime, die Flüchtlinge, die Asylbewerber, die Menschen mit Migrationshintergrund. Der Geifer rinnt den Kommentatoren aus dem Maul, der Schießbefehl wird diskutiert, Europa liegt in Trümmern, zerbombt durch die Stammtische.

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Die Straßen werden wieder deutsch und sauber. Endlich kehrt wieder Ruhe ein, wir finden zu alten Idealen zurück, wir marschieren wieder geschlossen. Die schwarz-weiß-rote Flagge weht wieder stolz. Wir haben es geschafft, wir sind wieder Wir. Die Renazifizierung ist abgeschlossen.

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