Seit Sarrazin schafft sich irgendwas oder irgendwer in Deutschland permanent ab. Seit Sarrazin ist „XY schafft sich ab“ aber auch immer mit einem faden Beigeschmack behaftet: Schon „schafft sich ab“ weckt fast unweigerlich Assoziationen mit „armen Deutschen“ und irgendwie „bösen Ausländern“.
Ein besonders schönes Beispiel für gewollte oder ungewollte negative Assoziationen ist der Artikel „Massenverblödung: Das gebildete Deutschland schafft sich ab“ von Reinhard Mohr erschienen auf welt.de.
Nachdem schon der Titel oben genannte Assoziationen weckt, bringt der Teaser gleich ein weiteres Schlagwort ins Spiel (Hervorhebung von mir):
Das Wissen der Deutschen erodiert. In Neukölln etwa haben 40 Prozent der Jugendlichen keinen Schulabschluss. Dabei haben wir aus unserer Geschichte gelernt, dass Dummheit tödlich sein kann.
Neukölln, das ist Heinz Buschkowsky, Brennpunktschulen und die Angst der Deutschen vor Islamisierung, Deutschenfeindlichkeit usw.1 Buschkowsky kommt im Artikel dann natürlich auch zu Wort, aber dazu später.
Der Artikel selbst beschäftigt sich mit der schwindenden Allgemeinbildung der Deutschen. Und das ist eigentlich auch das Perfide am ganzen Artikel: Hervorgehoben werden nämlich stets Menschen mit Migrationshintergrund, meist Jugendliche.2 Die Unterscheidung zwischen „Deutschen“ und „Deutschen mit Migrationshintergrund“ mag an manchen Stellen sinnvoll sein, allerdings sollten sich da immer automatisch ein paar Fragen stellen: Wie lange gilt ein Mensch als Mensch mit Migrationshintergrund? Gibt es Zusammenhänge zwischen der Herkunft und der gegebenen Antwort und lassen sich diese pauschalisieren? Ist die Unterscheidung nach Herkunft überhaupt wichtig usw.
Migrationshintergrund ist in Deutschland mit festen Stereotypen verbunden: Türken, Araber, vielleicht noch Russen, Rumänen, Polen werden assoziiert. Niederländer, Österreicher, Belgier, Dänen, Schweden, Italiener, Amerikaner, Engländer usw. nicht. Das sollte man beim Schreiben solcher Artikel bedenken und man könnte Reinhard Mohr unterstellen, dass er das ganz genau weiß und nutzt. Ein Auszug aus dem Artikel:
[…] es geht wild durcheinander, wenn junge Leute nach Personen und Ereignissen der Zeitgeschichte gefragt werden. Das zeigen Studien der vergangenen Jahre wie die des „Forschungsverbunds SED-Staat“ an der FU Berlin unter dem Titel „Später Sieg der Diktaturen?“. Selbst der prinzipielle Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur ist etwa 40 Prozent der Jugendlichen nicht bekannt. Keinen Zweifel am totalitären Charakter des Nationalsozialismus hat nur gut jeder Zweite, und lediglich etwas mehr als die Hälfte der Befragten hält die alte Bundesrepublik für eine Demokratie. Unter jugendlichen Migranten bewerten gar 40 Prozent Hitlers Nazi-Staat positiv oder neutral.
Das hat insofern etwas mit der Herkunft zu tun, als dass hier das Elternhaus und die Sozialisation entscheidend sind. Was bei Welt.de nicht erwähnt wird (Hervorhebung von mir):
Jugendliche mit Eltern aus dem Nahen Osten beispielsweise schätzen ihn zu knapp 18 Prozent positiv ein, solche mit türkischen oder kurdischen Eltern zu knapp 16 Prozent. Etwas positiver als über den Nationalsozialismus fällt das Urteil der Jugendlichen über die DDR aus. Gut zehn Prozent werten die DDR positiv, mehr als ein Viertel sieht die sozialistische Diktatur neutral, 63 Prozent der Befragten haben ein negatives DDR-Bild. Allerdings macht sich hier der Einfluss von in der DDR geborenen Eltern stark bemerkbar. Von ihren Kindern beurteilt nur gut die Hälfte die DDR negativ, etwa 35 Prozent fällen ein neutrales Urteil.
Befragt mal die „arischen“ Kinder von Nazis, was die von Hitler halten.3 Mohr springt in seinem Artikel immer zwischen „Deutschen“ und „Migranten“ hin und her. Was er dadurch schafft? Er macht „die Migranten“ zum Grundstein des Problems und er erhebt „Meinungen“ zum Allgemeinwissen. Allgemeinwissen ist zwar ohne Frage ein bedeutender Pfeiler der eigenen Meinungsbildung, aber Meinungen sind kein Wissen. Aber auch wenn es um „Allgemeinwissen“ geht, ist bei Mohr nie so ganz ersichtlich, auf wen sich die Umfrageergebnisse beziehen. Liest man nur flüchtig, bleibt der Eindruck, dass es vornehmlich um „Migrantenkinder“ geht, viele der Umfrageergebnisse machen diese Unterscheidung aber gar nicht, da geht es schlicht um Kinder bzw. Jugendliche.
Mohr verzichtet darauf, Studien und Umfragen in größere Zusammenhänge zu setzen, stattdessen gleitet er in die üblichen Stammtischparolen ab: doofe Migranten, böses Internet, schlimme Brennpunktschulen, arme Lehrer. Die Ebenen durchmischen sich im gleichen Maße in dem der Populismus zunimmt. Im Sinne des letzten Satzes könnte man sagen:
Die Deutschen haben es erlebt: Auch populistischer Journalismus kann tödlich sein.