Ihr habt uns verraten

Wisst ihr noch wie’s früher war? Wir standen auf dem Schulhof, saßen am Nachmittag in der Stadt rum und hörten die Smiths. Das stimmt natürlich nicht so ganz, wir hörten euch: Die Ärzte, Die Toten Hosen und was uns noch so an Punk in die Finger kam. Wir waren kritisch, wir waren antifaschistisch, wir hatten nicht so richtig Ahnung, wovon wir eigentlich reden. Das war okay, denn wir hatten dich, Farin,  und dich, Campino, für das Globale hatten wir Greg.

Jetzt sind wir älter, wir sind in dem Alter, in dem man dem Klischee nach konservativer wird. Sind wir aber nicht geworden. Wir sind vielleicht nicht im Schwarzen Block, wir haben vielleicht nie die „richtigen“ antifaschistischen Punkbands gehört. Aber trotzdem: Wir stehen mit fassungslosem Blick vor der Gesellschaft, sehen das erneute Erstarken von Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus und Diskriminierung. Wir brechen jedes Mal, wenn wir Satzanfänge wie „Ich hab ja nichts gegen Ausländer, aber…“ hören oder Sätze mit „das wird man jawohl sagen dürfen“ enden. Wir wollen schreien, wenn die BILD sich als APO bezeichnet, wir verzweifeln, wenn Sarrazin und Pirinçci die Bestsellerlisten erobern. Wir applaudieren, wenn Bands sich weigern, mit Frei.Wild auf der gleichen Veranstaltung zu sein und wir begreifen die Welt nicht mehr, wenn der Aufschrei ein Jahr später ausbleibt.

Und ihr? Ihr singt von Tagen wie diesen und Waldspaziergängen mit Folgen. Ihr seid kritisch, ja. Aber ihr habt uns verraten und verlassen. Ihr habt die Saat für unsere heutige Fassungslosigkeit gesetzt, ihr habt etwas lieblos gewässert, aber die Saat ist aufgegangen. Wir konnten „Schrei nach Liebe“, „Sascha, ein aufrechter Deutscher“ auswendig. Wir können es immer noch. Auch „Sommer nur für mich“ oder „Willkommen in Deutschland“ waren und sind gern gesehene Gäste auf unseren Playlists. Lange Jahre ward ihr unser Sprachrohr, ihr ward diejenigen, die unsere Meinung auch im „Mainstream“ platzieren konnten. Jetzt werdet ihr auf CDU-Veranstaltungen gespielt und von Fahnen-schwenkenden-„Patrioten“ gesungen. Wir vermissen euch. Niemand konnte bisher euren Platz so richtig füllen, aber auch euch ist der Platz zu groß geworden.

Tue ich euch Unrecht? Vielleicht. Auch ihr habt euch weiterentwickelt, genauso wie wir. Revolution stand auf unseren Fahnen, wir wussten nicht so genau, warum. Aber in eurem Wind wehten sie kräftig. Heute haben wir unsere Fahne neu bemalt, wir verstehen, was ihr uns sagen wolltet. Aber euer Wind bleibt aus. Wir sind kopfüber in die Hölle gesprungen und kommen nicht mehr raus. Sascha pinkelt wieder auf sein Judengrab, gehüllt in die Farben eines neuen, konservativen Deutschlands. In Dortmund stehen die Nazis vor dem Rathaus und skandieren „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ und wollen rein. Weil einer von ihnen ins Stadtparlament gewählt wurde. In Magdeburg sitzt wurde einer der Verurteilten der Magdeburger Himmelfahrtskrawalle auch demnächst im in den Rat gewählt.1

Wir sind umzingelt, wir verlieren. Es ist nicht eure Schuld.

[Artikelbild: IdrawESCAPEplans]

  1. Update: Aber er nimmt das Mandat wohl nicht an. []

2 Gedanken zu „Ihr habt uns verraten“

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