Die Entwicklungen um den Mordfall an dem 11jährigen Mädchen aus Emden drehen sich aktuell, wahrscheinlich aus Mangel an Tatverdächtigen, um die Äußerungen verschiedener Menschen bei Facebook. Wer mich kennt oder meine Äußerungen zu dem Thema auf Facebook mitverfolgen konnte, der weiß, dass ich kein Freund von „Todesstrafe für Kinderschänder“, Forderungen nach Selbstjustiz und Lynchmobs bin. Nur sollte man auch bei Themen, die einen selbst in Rage bringen, im Falle einer Berichterstattung versuchen, halbwegs sachlich zu bleiben.1 Stellvertretend für verschiedene Artikel, sei an dieser Stelle auf publikative.org verwiesen, die just den Artikel „Der Mob“ veröffentlicht hat. Der Artikel beginnt u.a. mit folgendem Absatz, der die Entwicklungen an sich recht treffend zusammenfasst:
Ein fürchterliches Sexualverbrechen, ein Bürger-Mob, der zur Selbstjustiz aufruft, sensationslüsterne Medien: In Emden ist deutlich geworden, wie Trauer und Empörung schnell in Vorverurteilungen und Lynch-Stimmung umschlagen können.
Man kann zwar geteilter Meinung darüber sein, ob 50 Menschen schon einen „Bürger-Mob“ darstellen, aber davon abgesehen stimmt es: Seit Bekanntwerden der Verhaftung des mittlerweile nicht mehr und eigentlich sowieso noch nie so wirklich Tatverdächtigen, gab es vielerorts auf Facebook eine ziemliche Lynch-Stimmung, auch in meiner Freundesliste. Dass das Wort „Tatverdächtiger“ gerne mit „Täter“ gleichgesetzt wird, dürfte ohnehin jedem klar sein. Der Autor des Artikels auf Publikative, Jesper Olsen, schlägt im weiteren Verlauf allerdings eine merkwürdige Richtung ein. Bewusst oder unbewusst, vermag ich nicht zu beurteilen, merkwürdig ist das suggerierte Bild aber ohne Frage. So ist zu lesen:
Wo Wut über ein Verbrechen an einem Kind herrscht, sind Menschen, die diese Wut instrumentalisieren wollen, nicht weit. In den vergangenen Wochen hatten bereits in Leck und Oldenburg Rechtsextremisten Wohnungen von “Kinderschändern” belagert und wollten diese stürmen. Dabei konnten sie auf Unterstützung aus der Nachbarschaft zählen.
Daneben sieht man eine „Werbung“ der NPD. Nun steht es, wie ich auch immer wieder gerne betone, außer Frage, dass dieses ganze Gesülze von wegen „Todesstrafe für Kinderschänder“ von der NPD instrumentalisiert wird, wenn es nicht sogar maßgeblich von der NPD oder nahestehenden Organisationen etabliert wurde. Der Artikel von Jensen suggeriert nun aber, dass auch in Emden die NPD oder irgendwelche Nazis ihre Finger mit ihm Spiel hatten. Dieser Eindruck wird mal mehr, mal weniger subtil immer weiter vertieft: So folgt ein weiteres Bild, dessen Unterschrift („Rechtsextreme punkten im Netz mit Parolen gegen „Kinderschänder“.“) suggeriert, dass es sich bei dem Screenshot erneut um eine Nazi-Seite handelt.2 Kurz unter dem Bild steht dann im Artikel:
Im Internet (und auf Autohecks) sind Forderungen nach der Todesstrafe für „Kinderschänder“ ohnehin bereits normal, in Emden fielen die Parolen auf einen fruchtbaren Boden. „Hängt ihn!“ und andere Parolen sollen Bürger gerufen haben, als der Jugendliche dem Haftrichter vorgeführt worden war. Ein Mob wollte die Polizeistation stürmen, um den Verdächtigen zu lynchen.
Ich weiß nicht, ob „im Internet“ solche Forderungen tatsächlich normal sind. Solche Forderungen tauchen natürlich immer gehäuft auf, deswegen ist so eine Behauptung schwer zu widerlegen. Die Behauptung, dass die Äußerungen auf fruchtbaren Boden fielen, ist hingegen so eine Sache. Zum einen hat emden mehr als 50 Einwohner, also mehr Einwohner als Mob. Zum anderen ist es, gerade auf „Sammelseiten“ schwierig, zu entscheiden, ob alle Kommentatoren Emder sind. Der Fall hat deutschlandweit Aufsehen erregt und so gibt es auch aus ganz Deutschland Menschen, die kommentieren. So liest man auf der Facebook-Seite „Deutschland gegen Kinderschänder“ sehr viele Aufrufe zur Selbstjustiz und zum Lynchen des ehemals Festgenommenen. Bei dieser Seite handelt es sich aber um eine der besagten „Sammelseiten“ und meiner Meinung nach auch eher in der NPD näheren Richtung einzuordnen. Publikative.org stellt zwar einen Screenshot entsprechender Kommentare zur Verfügung, verschweigt aber die Quelle. Nach kurzer Facebooksuche nach den erkennbaren Namen, denke ich aber, dass es sich um Kommentare von der Kondolenzseite bei Facebook handelt. Eine kurze Suche zeigt aber auch, dass es sich keineswegs nur um Emder handelt, die dort kommentieren. Die Forderungen nach drakonischen Strafen fallen auf fruchtbaren Boden, aber wie fruchtbar der Boden in Emden war, lässt sich so nicht feststellen.3
Die Argumentation ist aber auch in anderer Richtung eher merkwürdig. Olsen schreibt:
Allerdings hatte die Polizei selbst im Netz fahndet [sic!] – und so den Gewalt-Shitstorm mit entfacht. Und was sollen Internet-Nutzer aus Bayern, Berlin oder Brandenburg überhaupt Gewinnbringendes zu einem Video aus einem Parkhaus in Emden beitragen?
Die Argumentation in einem Satz: Die Polizei nutzt das Internet zur Fahndung und ist deswegen Schuld an den hasserfüllten Parolen und Reaktionen. Dies ist nun ziemlicher Blödsinn. Die Polizei kann nichts dafür, wenn Menschen im Internet die Kontrolle über sich verlieren oder wenn Menschen im Internet absoluten Blödsinn schreiben. Entsprechende Kommentare gab es schon vor dem Video unter den Artikeln der regionalen und überregionalen Zeitungen. Und wenn man fragt, was Leute aus Bayern schon beitragen könnten, dann müsste man auch die Ausstrahlung in überregionalen Nachrichtensendungen hinterfragen.4
Mit anderen Dingen hat Olsen allerdings Recht, z.B. wenn er die Bezeichnung „Netzwerker“ hinterfragt und das Internet als Resonanzkörper der Gesellschaft bezeichnet. Diese Feststellungen gehen allerdings im Nachhall der vorherigen Argumentation unter.
Abschließend: ich respektiere und befürworte die Aufklärungsarbeit über diese ganze „Todesstrafe für Kinderschänder“-Schiene, aber nicht, wenn sie so plump und argumentativ fragwürdig daherkommt. Ich befürchte zwar auch, dass vor Ort in Emden auch Nazis bewusst mitgemischt haben, aber ich bezeichne es klar als das, was es ist: eine Vermutung. Beweise dafür fehlen ebenso wie für die Behauptung, dass die Nazi-Parolen in Emden auf fruchtbaren Boden gefallen sind. Es könnte sich auch schlicht um überbordende Emotionen gehandelt haben, die durch die Art solcher Taten immer wieder geweckt werden.
- Oder man schreibt Rant drüber bzw. macht deutlich, dass es sich um einen solchen handelt. [↩]
- Was falsch ist, eher das Gegenteil ist der Fall, wie man bei Facebook lesen kann. Die Seite bleibt trotzdem irgendwie merkwürdig. [↩]
- Mittlerweile sind die Klarnamen übrigens geschwärzt. [↩]
- Das sollte man, ganz im Sinne des frühen Neil Postman vielleicht tatsächlich tun, aber nun. [↩]