Kraken

Wenn ich meine Timeline so beobachte, dann habe ich manchmal das Gefühl, es sei gerade „in“, die Piraten für alles mögliche fertig zu machen. Besonders „in“ sind (mal wieder) die Vorwürfe, dass die Piratenpartei antisemitisch sei bzw. genau: sich antisemitischer Symbolik bedienen würde. Dies geht zurück auf das Logo, welches u.a. die Piratenpartei für ihre Proteste gegen ACTA benutzt. Das entsprechende Logo sieht man auf der entsprechenden Seite überall. Um lästiges hin und her springen zu vermeiden, die übliche Variante nachfolgend:

Quelle: http://www.stopp-acta.info/deutsch/index.html

Wer sich jetzt fragt, warum das bild als antisemitisch angesehen wird: Das habe ich mich zunächst auch gefragt und mehrere Antworten, die erste davon aus dem Jahr 2010, bei publikative.org (formerly known as npd-blog) gefunden:

[Die Piraten] kommen [mit der Verwendung der Krake] in eine gefährliche Nähe des antisemitischen Stilmittels der Krake über dem Erdball. Dieses wird immer wieder bewusst eingesetzt, von Antisemiten und Neonazis, um dem Betrachter die Gefahr einer übermächtigen, gierigen, dunklen Bedrohung zu suggerieren.

Aufgezogen wird der ganze Vorwurf speziell an einer Karikatur aus dem Jahr 1938, welche in „Der Stürmer“ erschien und von Josef Plank stammt:

Darstellung aus dem Jahr 1938, in der antisemitische Wochenzeitung "Der Stürmer" publiziert; Josef Plank

Publikative.org verwendet mittlerweile drei verschiedene Artikel auf das Thema (zwei aus dem Jahr 2010) und bleibt dabei eisern bei der offensichtlichen Nähe zur Darstellung im „Stürmer“ und damit immer beim Vorwurf der Verwendung antisemitischen Bildmaterials. Ein paar der getätigten Äußerungen will ich mal näher betrachten, damit diese lange Einleitung auch mal ein Ende hat.

Im Vergleich beider Bilder schreibt Patrick Gensing folgendes in einer Bildunterschrift:

Bildkomposition der Stopp-Acta-KampagnePiratenpartei, die faktisch identisch ist mit einer Darstellung aus dem Jahr 1938, die in der antisemitische [sic!] Wochenzeitung „der Stürmer“ publiziert wurde.

Ebenfalls auf Publikative.org schrieb der Diplom-Designer Robert Hampicke:

In ihrer Stopp-Acta-Kampagne verwenden Piratenparteien verschiedener Länder das Motiv einer Krake, die den Erdball mit ihren Tentakeln umschlingt. Die Bildkomposition ist faktisch identisch, mit einer Darstellung aus dem Jahr 1938, die in der antisemitische [sic!] Wochenzeitung “der Stürmer” publiziert wurde. Die Metapher der Krake scheint seit Ende des 19. Jahrhunderts zum Standardrepertoir der Karikaturisten zu gehören. Sie dient dabei als Sinnbild für eine erdrückende, alles an sich raffende Übermacht.
In den allermeisten Fällen wird dabei jedem einzelnen Tentakel eine spezielle Funktion zugeordnet oder der dargestellte Sachverhalt wird durch die Hinzufügung von weiteren Attributen erklärt. Die Krake aus der Zeitung “Der Stürmer”, die den Erdball umspannt, ist dabei durch ihren hohen Abstraktionsgrad einzigartig und sticht unter der Vielzahl der Darstellungen heraus.

Die unterstellte „faktische Identität“ wird, soweit ich nichts überlesen habe, eben anhand dieser fehlenden Zuschreibung spezieller „Funktionen“ der Fangarme unterstellt. Dies greift in meinen Augen viel zu kurz, was in den verschiedenen, mittlerweile zur Genüge verlinkten, Artikeln eigentlich auch drin steht. Diese Erkenntnis wird aber irgendwie dann immer in Richtung Antisemitismus abgebogen. Wenn man den Vergleich der beiden Bilder einmal genauer betreibt und auch weitere Äußerungen von R. Hampicke heranzieht, wird vielleicht deutlich, was ich meine.

Hampicke behauptet, die Krake der Piraten sei nicht als Datenkrake zu erkennen und sei deswegen extrem erklärungsbedürftig. Das stimmt auch soweit. Auf der anderen Seite muss man aber auch sagen, dass die Krake aus dem Stürmer extrem erklärungsbedürftig ist, denn sie ist auch nicht sofort als „Juden-Krake“ zu erkennen. Dies stellt auch Hampicke soweit fest, wenn er sagt, dass die Krake „nur den Sachverhalt einer dunklen Bedrohung der Welt [beschreibt]1, worin diese Bedrohung besteht, darüber gibt die Darstellung keine weitere Auskunft. Das macht sie der Krake aus dem “Stürmer” von 1938 so ähnlich und legt die Vermutung nahe, dass sich hinter ihr ebenfalls ein geschlossenes Weltbild verbergen könnte.“

Natürlich liegt dahinter ein geschlossenes Weltbild! Nämlich das geschlossene Weltbild einer „dunklen Bedrohung der Welt“. Das ist beiden Kraken, und wahrscheinlich den meisten Kraken in der wunderschönen Sammlung auf „Vulgar Army„, gemein: Sie stellen zunächst nur eine wahrgenommene Bedrohung dar, die die ganze Welt betrifft. Außerdem gemein ist beiden Kraken, dass sie eben nicht so „extrem erklärungsbedürftig“ sind, wie Hampicke das behauptet. Zu den Bildern gehören nämlich nicht nur die Elemente Krake und Globus, sondern noch ein paar mehr Elemente bzw. Details. In der Stürmer-Karikatur schwebt über der Krake ein Davidsstern, religiöses Zeichen des Judentums. Damit bekommt die Krake eine Bedeutungszuschreibung (Krake=Juden). Außerdem „blutet“ die Welt an den Stellen, an denen die Fangarme der Krake die Oberfläche berühren. Dies erweitert die Aussage der Karikatur um den Aspekt „Juden zerstören/töten ‚unsere‘ Welt/Gesellschaft“. Antisemitischer Bockmist halt.

Die ACTA-Krake besitzt keinen Davidsstern und die Welt blutet auch nicht. Die Krake umfasst, ähnlich wie die andere, die Welt in Gänze. Die „extrem erklärungsbedürftige“ ACTA-Krake wird vornehmlich durch zwei Faktoren in ihrer Bedeutung bestimmt: Das Stirnband mit den Flaggen der Schweiz, der USA und Japan2 und durch den Schriftzug „Stopp Acta“.3 Der Abstraktionsgrad von „Hey, da sitzt ein riesiger Krake auf unserer Erde [=da bedroht etwas uns alle]“ zu „Der Schriftzug sagt uns wohl, dass die Krake dieses ACTA ist [=ACTA ist die Bedrohung]“ ist jetzt, in meinen Augen, nicht so groß. Sogar noch geringer, als bei der Stürmer-Krake.

„Faktisch identisch“, sehr geehrter Herr Gensing, ist etwas anderes. Man kann nicht einfach 50% aller Bildelemente ignorieren und dann sagen: Stimmt so. Das schlimme an dieser Behauptung ist ja sogar, dass publikative.org auf Vulgar Army verlinkt und allein durch eine kurze Sichtung klar wird, dass ähnliche, fangarm-unspezifische Darstellungen, nicht so selten sind. Kostproben gefällig?

  1. Kommunismus-Krake 1
  2. Grover Cleveland
  3. Kommunismus-Krake 2
  4. Ho Chi Minh
  5. So’n Mittelding zwischen spezifisch und eher nich
  6. War Octopus
  7. Batman Movie 1966 Poster

Man sieht, es gibt viele Beispiele. Die spezifischen Zuschreibungen sind in der Mehrheit, keine Frage, aber so selten sind die anderen nun auch nicht.

Dieses „Piraten-Bashing“ ist tatsächlich nur ein Bashing, und keine Diskussion. Die Diskussion wird nicht ergebnisoffenen und neutral geführt, sondern lenkt eindeutig in eine besondere Richtung. Dies zeigt sich, erneut, an folgenden Beispielen.

Der Schlussatz von Hampicke:

Schlussendlich zeigt sich der ganze Bedeutungsumfang eines Zeichens, in der Summe seiner Lesarten. Nicht nur in der Lesart der Zustimmenden und “Erkennenden” sondern auch in der Lesart der dem Zeichen gegenüber neutralen und seiner “Gegner”.

Dieser Schlussatz passt so gar nicht zum entsprechenden Artikel. Trotz mehrerer Ansätze, die ich hier teilweise versucht habe zu skizzieren bzw. weiterzuführen, wird eben nur die Seite der „Gegner“ genauer beleuchtet. Auch schön folgende Beispiele aus dem Artikel von Patrick Gensing:

Eine sinnvolle Gesellschaftskritik sieht anders aus. Zudem befördern die meisten Tiermotive seit Jahrhunderten bestehende Ressentiments – und verhindern eine sachliche Analyse, denn die Schuldigen stehen bereits fest.

Natürlich stehen die Schuldigen bereits fest. Sie stehen aber aufgrund der Bildkomposition fest und nicht aufgrund des Tiermotivs an sich. Eine sachliche Analyse wird durch eine unsachliche Diskussion verhindert.

Auch schön ist folgende Stelle:

Kraken, Ratten, Heuschrecken sollen komplexe gesellschaftliche und wirtschaftliche Zusammenhänge vereinfachen und personalisieren. Die Tiere symbolisieren eine bestimmte Gruppe von Menschen, wie Spekulanten, Einwanderer oder jüdische Weltverschwörer, die durch unfassbare Macht die ganze Erde oder durch hinterlistiges Verhalten das brave Volk bedrohen.

Ja, die Tiere symbolisieren eine bestimmte Gruppe von Menschen und bei einigen Tiersymboliken in politischen Kontexten kann man auch unter Umständen sagen, dass diese Gruppen fast immer durch das gleiche Tier dargestellt werden. Aber selbst das wäre eine eher kühne Behauptung und würde erneut elementare Bildelemente ausblenden und dadurch zu einer eher beliebigen Festlegung der Konnotation führen.

Ich finde die reine Information zur Bedeutung von Kraken in politischen Zusammenhängen sehr interessant, da ich vorher nicht darüber nachgedacht habe. Die Art, wie die Diskussion aber geführt wird, egal von welcher Seite, ist aber schlicht und ergreifend bescheuert. Es bringt absolut gar nichts, wenn man auf Teufel komm raus eine Bedeutungszuschreibung erzwingen will. Hier wird das, meiner Meinung nach, versucht. Die zwanghafte Zurückweisung der vorgebrachten Argumente, ohne selbst welche zu finden, ist natürlich ebenso dämlich.4

So, nun ist’s erstmal genug.

  1. Sie stellt eigentlich dar und beschreibt nicht, aber nun. []
  2. Drei Länder des ACTA-Abkommens, die blaue Flagge daneben ist die EU, siehe hier. []
  3. Letzterer fehlt zugegebenermaßen auf dem Button, den die Bewegung zur Einbindung auf Internetseiten anbietet. Aber auf diesem Button fehlt fast alles, was nicht Krakenkopf ist. []
  4. Autobahnen und so. []

Ein Gedanke zu „Kraken“

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